UNMASKING AUTISM / Versteckter Autismus demaskiert

EIN BUCH, DAS MICH NICHT NUR BESCHREIBT, SONDERN MIR WIRKLICH ZUHÖRT 

Ich habe lange gezögert, Bücher über Autismus überhaupt noch zur Hand zu nehmen. Zu oft fühlte ich mich darin falsch verortet – entweder pathologisiert, übergangen oder in eine Kindheit gedrängt, die nicht meine war. Besonders Bücher aus medizinischer Perspektive ließen mich regelmäßig mit dem Gefühl zurück, als erwachsene, maskierende, feinfühlige Autistin durch ein Raster zu fallen. Als wäre ich nicht gemeint – oder nur in einer Fußnote.

Hardcover, 336 Seiten;
Erschienen: April 2025 (deutsche Ausgabe hrsg. YES, Münchener Verlagsgruppe GmbH)
ISBN: 978-3-96905-384-3

„Unmasking Autism“ von Dr. Devon Price hat dieses Empfinden grundlegend verändert.

Deutscher Titel: Versteckter Autismus demaskiert: Von der Befreiung, die eigene Neurodivergenz zu akzeptieren und autistische Symptome nicht länger zu unterdrücken*

Eine Stimme aus der Mitte der Erfahrung

Schon nach den ersten Kapiteln war mir klar: Hier schreibt jemand aus der Mitte der Erfahrung heraus. Nicht über uns, sondern mit uns. Price ist selbst autistisch, trans, Psychologe – und all das ist in jeder Zeile spürbar. Das Buch ist analytisch, aber warmherzig; fundiert, aber nahbar. Es trifft einen Ton, den ich in der deutschsprachigen Literatur bisher schmerzlich vermisst habe: einen Ton, der nicht erklärt, sondern versteht.

Besonders berührt hat mich der Fokus auf Maskierung – jene tiefgreifende Anpassung an neurotypische Erwartungen, die viele Autist:innen über Jahre verinnerlichen, oft ohne es zu wissen. Für mich war das Lesen wie das vorsichtige Abrollen alter Pflaster. Schicht für Schicht kamen Erinnerungen hoch: Situationen, in denen ich verstummte, obwohl ich viel zu sagen hatte. Momente, in denen ich meine Freude zügelte, meine Wut dimmte, meine Stimme verstellte. Und irgendwann selbst nicht mehr wusste, wie sich meine echte Stimme eigentlich anfühlt.

Maskierung als Überlebensmodus

Price beschreibt Maskierung nicht als bewusste Strategie, sondern als Überlebensmodus – eine Form dauerhafter Selbstverleugnung, die kurzfristig schützt, aber langfristig krank machen kann. Burnout, Depression, Identitätsverlust: All das wird nicht pathologisiert, sondern als logische Folge eines Systems benannt, das neurodivergente Menschen zur ständigen Anpassung zwingt.

Hilfreich war für mich auch der Aufbau des Buches: Es enthält zahlreiche Reflexionsimpulse, aber keine plumpen Selbsthilfeanleitungen. Statt vorgefertigter Lösungen eröffnet es Räume, in denen ich mich – oft zum ersten Mal – ehrlich mit mir selbst auseinandersetzen konnte. Wer bin ich, wenn ich nicht funktioniere? Was brauche ich, wenn ich nicht genüge? Wo endet Anpassung, und wo beginnt der Verrat an mir selbst?

Politischer Anspruch und intersektionale Perspektive

Gleichzeitig bleibt das Buch nicht im Persönlichen stehen. Es ist durch und durch politisch. Price macht unmissverständlich klar, dass es nicht ausreicht, individuell zu sich selbst zu finden. Unmasking ist kein neoliberales Empowerment-Versprechen, sondern eine radikale Handlung: gegen Normierung, gegen Ableismus, gegen ein System, das Menschen auf ihre Funktionstüchtigkeit reduziert.

Besonders wohltuend war für mich die konsequent intersektionale Perspektive. Price schreibt nicht für ein stereotypisiertes Publikum – nicht nur für weiße Männer in technischen Berufen –, sondern für Autist:innen unterschiedlicher Geschlechter, Ethnien, sexueller Orientierungen und sozialer Kontexte. Für Menschen, die mehrfach marginalisiert werden. Für Menschen, die zu oft übersehen wurden – auch in der Forschung!

Viele Passagen habe ich mehrfach gelesen, einige unterstrichen, andere fotografiert. Manche Sätze sind geblieben. Einer davon:

„Es war nicht mein wahres Ich, das versagt hat – sondern die Maske, die ich so lange getragen habe.“

Ich wünschte, ich hätte dieses Buch früher gelesen. Vielleicht mit 16. Vielleicht mit 25. Aber ich bin dankbar, dass ich es jetzt lesen durfte – mit über 30, in einem Moment, in dem ich mich entschieden habe, mich nicht länger klein zu machen, nur um durch den Alltag zu passen.

„Versteckter Autismus demaskiert“* ist für mich nicht nur ein Buch, vielmehr ist es ein wahrlich Werkzeug, Kompass und sogar ein Trost. Und ein leiser, aber deutlicher Aufruf mit Nachdruck, sich selbst zurückzuerobern.

Ich empfehle es allen, die selbst im Spektrum sind oder glauben, es zu sein – aber ebenso Angehörigen, Therapeut:innen, Lehrer:innen, Arbeitgeber:innen. Wer wirklich verstehen möchte, was es bedeutet, als Autist:in in einer neurotypisch geprägten Welt zu leben – nicht nur biologisch, sondern auch emotional, sozial und strukturell –, wird in diesem Buch mehr lernen als aus hundert Broschüren.

Danke an Devon Price für Ihre Sprache, Einfühlungsvermögen und Verständnis. Für Ihre Klarheit. Für Ihren Mut. Dieses Buch wird mich noch lange begleiten. Und es hat mir mehr gegeben, als ich erwartet habe.

*enthält Affiliate

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