Neulich fragte mich jemand auf einer Veranstaltung, ob ich „auch dieses Hochfunktionale“ sei. Ich war gerade dabei, ein Glas Wasser so unauffällig wie möglich abzustellen, um das klirrende Geräusch zu vermeiden, das mich seit fünf Minuten innerlich aus dem Raum drängte. Ich nickte also. Und dann kam der Satz: „Das merkt man ja gar nicht.“
Ich lächelte. Und dachte: Doch. Ich merke es. Dauernd.
Ein Spagat zwischen Sichtbarkeit und Tarnkappe
Hochfunktionaler Autismus – das klingt für viele wie ein Upgrade. Fast wie ein gut kalibrierter Sondermodus: klug, still, ein bisschen nerdy, aber irgendwie liebenswert. Was selten gesehen wird: der Spagat, den man täglich macht zwischen Mitdenken und Mitkommen, zwischen Analyse und Anschluss, zwischen „funktionieren“ und schlicht: sein dürfen.
Kaffeemaschinen, Kantinen, Kontexte
Ich erinnere mich an eine Kantinenszene, bei der der Kaffeevollautomat lauter war als die Gespräche am Tisch. Mein Gegenüber sprach über Projektpläne, ich hörte nur den Wasserdampf zischen. Ich nickte, stellte irgendwann eine unpassende Rückfrage – und wusste sofort: wieder falsch abgebogen. Nicht, weil ich es nicht verstanden hätte. Sondern weil mein System gerade versuchte, zehn Reize gleichzeitig zu sortieren. Das klappt nicht immer. Auch wenn es nach außen oft so wirkt.
Spezialinteressen & das Monolog-Wunderland
Ja, ich hatte ein Spezialinteresse. Mehrere sogar. Als Kind war es die Geografie von Vulkaninseln, später die komplette Geschichte der Typografie seit Gutenberg. Ich konnte stundenlang darüber sprechen – solange niemand versuchte, das Thema zu wechseln. Small Talk hingegen? Eher ein steiniger Pfad durch ein unbekanntes Land.
Ein bisschen zu klug – ein bisschen zu viel
Die Sprache? Oft zu genau. Zu glatt. Zu lehrbuchartig. Ich war das Kind, das im Unterricht aufstand und sagte: „Entschuldigung, aber Ihre Rechnung ist falsch.“ Nicht aus Besserwisserei – sondern weil mein Gehirn sofort den Fehler sah und dachte: das muss man doch mitteilen. Dass das soziale Folgen hatte, lernte ich später.
Funktionieren ist keine Superkraft – es ist Anpassung
Der Begriff „hochfunktional“ ist tückisch. Er sagt: Du kommst klar. Du brauchst nichts. Dabei ist genau das oft das Problem. Denn: Ich bin nicht nur mein Wissen, nicht nur mein Sprachvermögen, nicht nur das, was gut aussieht. Ich bin auch die Müdigkeit nach sozialen Interaktionen. Die Anspannung beim Kleiderkauf. Die Tränen, wenn ein Fauxpas passiert – nicht aus Empfindlichkeit, sondern aus Überforderung.
Haltung statt Harmonie
Ich wünsche mir, dass Hochfunktionalität nicht als Tarnkappe, sondern als Einladung zum Hinsehen verstanden wird. Dass wir aufhören, Menschen danach zu bewerten, wie gut sie sich anpassen – sondern beginnen, sie darin zu bestärken, echt sein zu dürfen. Mit all den Ecken, Tiefen, Routinen und Rissen, die dazugehören.
Denn sichtbar zu sein heißt nicht immer, dass man gesehen wird. Und hochfunktional zu sein heißt nicht, dass man keine Hilfe braucht – manchmal heißt es nur, dass man sie sich besonders schwer eingestehen kann.
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