Geräusche, die keiner hört

Sensorische Hochfrequenzempfindlichkeit bei Autist*innen: eine stille Herausforderung

Menschen im Spektrum haben oft eine andere sensorische Verarbeitung als neurotypische Personen. Das bedeutet nicht nur, dass sie Reize intensiver wahrnehmen können – sondern auch, dass diese Reize länger nachhallen, schwerer gefiltert werden und in Kombination schneller zur Überforderung führen. Ein besonders wenig verstandener Aspekt ist die Empfindlichkeit gegenüber hohen, feinen, konstanten oder flackernden Geräuschen – also sogenannten Hochfrequenzgeräuschen.

Dabei geht es nicht um offensichtlichen Lärm wie Presslufthämmer oder Sirenen, sondern um subtile, meist technisch erzeugte Klänge: das Sirren eines Netzteils, das hochfrequente Fiepen einer LED-Leuchte, das Spulenfiepen eines Ladegeräts, das Pfeifen eines Wasserkochers oder die hochgelegene Stimme eines überdrehten Gesprächspartners. Für viele Menschen bleiben diese Geräusche unter der Wahrnehmungsschwelle – für viele Autist*innen hingegen sind sie körperlich spürbar. Sie erzeugen Spannung, Stress, Reizüberflutung – bis hin zu Angstreaktionen, Panik oder dem sogenannten Shutdown (eine Form des Zusammenbruchs unter Reizüberlastung).

Was ist Hochfrequenz im sensorischen Kontext?

Im technischen Sinn beschreibt Hochfrequenz (HF) einen Bereich oberhalb von 2.000 Hertz – also Töne und Geräusche mit hoher Schwingungsrate. Besonders empfindlich reagieren Menschen im Spektrum jedoch oft schon auf deutlich niedrigere Frequenzen, wenn diese kontinuierlich auftreten oder sich mit anderen Reizen überlagern. Es geht also nicht nur um laut, sondern um hoch, dauerhaft und nicht kontrollierbar.

Beispiele aus dem Alltag:

  • Spulenfiepen: elektronische Bauteile (z. B. Netzteile, Monitore) erzeugen durch Vibrationen ein leises Pfeifen, das bei Lastwechseln auftritt.
  • Ladegeräte: Viele Smartphone-Netzteile beginnen bei 100 % Akku mit einem kaum hörbaren Sirren.
  • Leuchtstoffröhren oder Energiesparlampen: flackerndes Licht in Kombination mit einem summenden Ton.
  • Stimmen in hoher Tonlage: besonders schnell sprechende, hohe Stimmen werden als durchdringend oder „übergriffig“ empfunden.
  • Mikrofon- oder Lautsprecherfeedback: bestimmte Tonfrequenzen erzeugen bei elektronischer Verstärkung unangenehme Schwingungen.

Diese Geräusche sind nicht immer messbar – aber spürbar. Sie greifen nicht nur das Gehör an, sondern oft das ganze System. Menschen im Spektrum berichten von körperlichen Reaktionen wie Herzrasen, Kopfschmerzen, Muskelanspannung oder Reizwellen entlang der Wirbelsäule. Einige vergleichen das Empfinden mit einem „inneren Kurzschluss“.

Warum reagieren Autist*innen „besonders“ sensibel?

Die Unterschiede in der sensorischen Wahrnehmung sind neurologisch bedingt. Studien zeigen, dass das Gehirn autistischer Menschen Reize anders verarbeitet: Sie werden nicht gefiltert, nicht priorisiert, nicht wegsortiert – alles kommt gleich stark an. Ein Geräusch, das eine neurotypische Person sofort ausblendet, bleibt bei autistischen Personen präsent. Es dominiert das Erleben.

Gerade bei Frauen im Spektrum kommt ein weiterer Faktor hinzu: Viele von ihnen maskieren ihr Erleben – sie passen sich an, um als „funktional“ oder „nicht auffällig“ zu gelten. In sozialen Kontexten reagieren sie nicht offen auf unangenehme Geräusche, sondern halten sie aus – was zu chronischer Überlastung führen kann.

Sensorische Verarbeitung ist individuell – aber ernst

Wichtig ist: Nicht alle Autist*innen reagieren gleich. Sensorische Profile sind hoch individuell. Manche sind geräuschempfindlich, andere lichtempfindlich, wieder andere besonders taktil. Doch wer empfindlich auf Geräusche reagiert, erlebt diese nicht „psychologisch“, sondern physisch real.

Besonders herausfordernd ist die Tatsache, dass das Umfeld häufig nichts von diesen Reizen mitbekommt. Ein fiependes Gerät ist für die eine Person irrelevant – für die andere eine Tortur. Das führt zu Unverständnis, Konflikten und oft auch Selbstzweifeln auf Seiten der Betroffenen. Viele fragen sich: „Bilde ich mir das ein?“ Die Antwort lautet klar: Nein.

Strategien im Umgang mit hochfrequenten Reizen

  • Geräte systematisch prüfen: Ladegeräte, Netzteile und Lichtquellen können durch andere Modelle ersetzt werden.
  • Ruhezonen schaffen: stille Räume ohne Elektronik oder mit dämpfenden Textilien können helfen.
  • Geräuschanalyse mit Apps: manche Frequenzen lassen sich mit Analyse-Apps messbar machen – hilfreich in Diskussionen.
  • Verständnis im Umfeld aufbauen: Aufklärung über Reizempfindlichkeit ist zentral – Betroffene sollten nicht als „empfindlich“, sondern als reizwahrnehmungsfähig gesehen werden.
  • Körpereigene Regulation stärken: Atemübungen, körperliche Selbstberührung oder gezieltes Stimming (z. B. durch Summen) helfen, Reizreaktionen abzufangen.

Kulturelle Referenzen und Sensory Literacy

Hochfrequente Geräusche tauchen auch in Filmen und Serien auf – oft unbewusst, selten reflektiert. In Darren Aronofskys „π“ etwa wird die Überlastung eines mathematisch hochsensiblen Protagonisten durch wiederkehrende Töne und Bildflackern inszeniert. In „The Sound of Metal“ wird die plötzliche Stille nach Hörverlust zunächst als Katastrophe erlebt – aber dann als Klarheit. Solche Darstellungen zeigen: Akustik ist mehr als Kulisse. Sie prägt das Erleben.

Für Autist*innen – vor allem Frauen, die lange unterdiagnostiziert oder missverstanden wurden – ist es essenziell, die eigene sensorische Wahrnehmung als legitim anzuerkennen. Es braucht ein gesellschaftliches Verständnis von „Sensory Literacy“: die Fähigkeit, Reizempfindlichkeit nicht als Schwäche, sondern als Teil neurodivergenter Intelligenz zu begreifen.

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