Viele Frauen, die heute eine Autismus-Diagnose erhalten, tragen dieses Wissen oft nicht schon seit ihrer Kindheit mit sich, sondern verbringen Jahre, manchmal Jahrzehnte damit, sich anzupassen, möglichst gut zu funktionieren, nicht aufzufallen – weder anderen noch sich selbst zur Last zu fallen. Dieses Gefühl des Andersseins beginnt früh und zunächst namenlos, zeigt sich bloß als eine leise Ahnung, dass irgendetwas anders sein könnte.

Subtile Zeichen, die niemand sieht
Ein Großteil der gängigen Diagnosekriterien basiert auf Beobachtungen an Jungen. Das bedeutet nicht, dass Mädchen weniger autistisch wären, sie zeigen ihre Besonderheiten jedoch oft subtiler und mit größerer sozialer Anpassungsbereitschaft. Viele autistische Frauen imitieren soziale Interaktionen, lernen Regeln auswendig und beobachten ihre Umgebung so aufmerksam, dass ihre Anpassungsfähigkeit zur perfekten Tarnung wird und ihre chronische Erschöpfung oft unsichtbar bleibt.
Das stille Gewicht der Anpassung
Dieses jahrzehntelange Maskieren fordert seinen Preis. Viele Frauen im Spektrum sind hochreflektiert, sensibel und empathisch – Eigenschaften, die dazu führen, dass sie häufig mehr geben, als sie zurückbekommen. Ihre Umgebung nimmt diese Anstrengung selten wahr. Gespräche, Veränderungen und Erwartungen kosten Kraft und machen den Alltag zu einem Balanceakt zwischen dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit und dem inneren Wunsch, authentisch bei sich zu bleiben.
Autistische Frauen entsprechen oft nicht dem typischen gesellschaftlichen Bild von Autismus. Ihre Spezialinteressen sind selten auffällig, oft wirken sie sogar kulturell anerkannt und angemessen – etwa Literatur, Gestaltung oder Sprache. Nach außen erscheinen diese Frauen sprachgewandt und kontrolliert, doch diese scheinbare Mühelosigkeit ist das Ergebnis ständiger Selbstbeobachtung und innerer Steuerung, was oft anstrengender ist als jede sichtbare Herausforderung.
Masking bedeutet mehr als bloßes Verstecken. Es bedeutet, sich selbst regelmäßig zu verlassen, um erwartbar zu sein, zu lächeln, obwohl man innerlich brennt, zu schweigen, obwohl Worte drücken, und zu funktionieren, selbst wenn kaum noch Kraft vorhanden ist. Schließlich bleibt oft nur noch die Frage zurück: Wer bin ich eigentlich, wenn niemand zusieht?
Endlich Worte für das namenlose Gefühl
Eine späte Diagnose bietet keine einfache Lösung, sie schenkt jedoch eine Sprache und eröffnet einen neuen Blick. Für viele Frauen ist sie ein entscheidender Wendepunkt: Plötzlich ergibt etwas Sinn, plötzlich darf etwas sein. Gleichzeitig bleibt jedoch eine gewisse Traurigkeit bestehen über die verlorenen Jahre, in denen man sich fremd im eigenen Leben fühlte und Therapieziele scheinbar an einem vorbei formuliert wurden, als wäre man einfach nur falsch gestrickt.
Heute sprechen mehr autistische Frauen offen über ihr Erleben – klar, ruhig und ehrlich. Sie berichten nicht von Defiziten, sondern von ihren individuellen Wegen, von Kraftquellen und der dringenden Notwendigkeit, dass Diagnostik, Pädagogik und Gesellschaft umlernen müssen. Dass Autismus nicht einem stereotypen Bild entsprechen muss, um authentisch zu sein, und dass Vielfalt keine Abweichung, sondern Realität ist.
Ein Wunsch für mehr echtes Verständnis
Ich wünsche mir Räume, in denen autistische Frauen nicht erklärt, sondern verstanden werden, wo nicht gefragt wird, wie gut sie sich anpassen, sondern vielmehr, wie es ihnen wirklich geht. Wo nicht die Mimik bewertet wird, sondern der Mut anerkannt, sich selbst zu zeigen.
Denn die Bedeutung eines Menschen zeigt sich nicht in der Lautstärke, sondern in der Tiefe, mit der jemand sich selbst begegnet und endlich nicht mehr verstecken muss.
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