Die Spoon-Theorie: Warum Energie für Autist:innen nicht gleich Energie ist

Manchmal beginnt es schon beim Aufstehen. Nicht, weil der Tag besonders schwierig ist. Sondern weil er überhaupt beginnt. Die Zahnbürste liegt schwer in der Hand, das Licht im Badezimmer ist greller als erwartet, und der Geruch vom Duschgel trifft mich ungebeten. Noch bevor ich das Haus verlassen habe, sind zwei, drei „Löffel“ weg. Und ich weiß: Dieser Tag wird knapp.

Was ist die Spoon-Theorie?

Die Spoon-Theorie ist ein Bild für Energie. Entwickelt von Christine Miserandino, um einer Freundin zu erklären, wie es ist, mit einer chronischen Erkrankung zu leben. Jeder Löffel steht für eine bestimmte Menge an Energie. Gesunde Menschen wachen mit einem scheinbar unbegrenzten Vorrat auf. Menschen mit chronischer Erkrankung oder Behinderung haben nur eine begrenzte Anzahl. Und jeder Schritt, jede Entscheidung, jede Begegnung kostet einen Löffel.

Diese Theorie hat viele neurodivergente Menschen erreicht, vor allem Autist\:innen und ADHSler:innen. Denn auch ohne körperliche Erkrankung ist das Leben in einer nicht-neurodivergenzfreundlichen Welt kräftezehrend. Reize, Entscheidungen, Erwartungen, soziale Situationen – alles verlangt Energie. Und oft ist unklar, wie viel heute verfügbar ist. Oder wofür es reicht.

Der „spiky Spoon Drawer“

Was bei neurodivergenten Menschen anders ist: Die Energie verteilt sich nicht gleichmäßig. Man hat nicht einfach „12 Löffel“ für den Tag, sondern vielleicht drei soziale Löffel, fünf für Konzentration, null für Reizverarbeitung, dafür aber überraschend viele fürs kreative Schreiben. Es ist ein Löffel-Schubladensystem mit Sprühnen und Lücken. Mal sortiert, mal chaotisch. Und oft nicht planbar.

Das führt zu Missverständnissen. „Wenn du Energie für ein Treffen mit deiner Freundin hast, kannst du auch kurz einkaufen gehen!“ Nur: Das Treffen hat vielleicht soziale Löffel gekostet, das Einkaufen braucht sensorische, die aber heute gar nicht da sind. Es ist kein Mangel an Wille. Sondern ein anderer Bedarf.

Boom-or-Bust: Das Muster, das müde macht

Viele neurodivergente Menschen kennen das sogenannte Boom-or-Bust-Muster: An guten Tagen wird über die eigene Grenze hinaus gearbeitet. Alles, was sich angestaut hat, soll endlich erledigt werden. Es fühlt sich gut an – für den Moment. Doch danach folgt der Crash. Man liegt flach. Erschöpft. Leer. Und mit jedem neuen Zyklus dauert die Erholung länger. Ein stiller Abstieg in Richtung Burnout.

Ein nachhaltiger Umgang mit Energie sieht anders aus. Er braucht Taktgefühl. Grenzen. Und das Verständnis, dass Gleichgewicht wichtiger ist als Produktivität. Die Spoon-Theorie kann helfen, dieses Verständnis sichtbar zu machen. Für sich selbst. Und für andere.

Zwischen Selbstschutz und Selbstrespekt

Wenn ich heute einen Blogbeitrag schreibe, weiß ich: Es kostet Konzentrationslöffel, aber gibt mir kreative zurück. Vielleicht habe ich danach keine Kraft mehr, jemandem zurückzuschreiben. Oder das Bad zu putzen. Das heißt nicht, dass mir Menschen oder Ordnung nicht wichtig sind. Es heißt nur: Ich habe mich für diesen einen Raum entschieden, in dem ich wirken kann. Und das ist genug.

Die Spoon-Theorie ist kein Ausrede-System. Sie ist ein Kommunikationsinstrument. Sie öffnet Gespräche über Grenzen, Bedürfnisse, Ressourcen. Und vielleicht auch über die Frage, warum wir oft erst dann ernst genommen werden, wenn nichts mehr geht. Dabei wäre es so viel hilfreicher, vorher zu fragen: „Wie viele Löffel hast du heute überhaupt?

Denn vielleicht reicht es gerade für ein Lächeln. Für einen Satz. Für ein ehrliches Nein. Und das ist alles. Aber es ist echt. Und wertvoll.

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