Es ist nicht immer der Blick selbst, der schmerzt, sondern das unausgesprochene Urteil, das sich in ihm spiegelt: die feine, kaum wahrnehmbare Geste, die sagt, man sei zu viel – oder zu wenig – oder einfach nicht richtig...
Dieses Gefühl, nie ganz auf der richtigen „Frequenz“ zu senden, begleitet viele von uns, lange bevor Worte wie „Autismus“ oder „Spektrum“ oder „Störung“ überhaupt fallen.
Ich erinnere mich an eine beiläufige Bemerkung meiner Lehrerin, ich war elf (!) Jahre alt: „Du musst dich mehr einbringen, sonst wirkst du komisch.“ Damals wusste ich nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Also zog ich mich zurück. Ich lachte weniger, sprach leiser, beobachtete mich selbst durch die Augen der anderen. Nach und nach wurde mir fremd, was vorher selbstverständlich war – meine Freude, meine Wut, mein ganz eigener Ausdruck.
Diagnose und neue Missverständnisse
Als ich über dreißig war, also fast 20 Jahre später, brachte die Diagnose Autismus eine Form der Erklärung, auch rückblickend. Sie gab meinen Erfahrungen ein neues Koordinatensystem, aber machte mich nicht automatisch sichtbar(er). Ganz im Gegenteil: Sie öffnete einen Raum neuer Missverständnisse, gefangen zwischen Mitgefühl und Fremdsein, zwischen: „Das merkt man dir gar nicht an“ und: „Das erklärt einiges.„
Stigmatisierung geschieht selten aus böser Absicht. Häufig entsteht sie dort, wo Wissen fehlt – oder durch Zuschreibungen ersetzt wird. Autismus wird entweder romantisiert oder pathologisiert: als außergewöhnliche Gabe oder als tragisches Defizit. Zwischen diesen Polen fehlt oft das Verständnis für das gelebte Dazwischen.
Sätze wie: „Ich glaube, wir sind alle ein bisschen autistisch“ mögen harmlos klingen, entwerten jedoch die spezifischen Herausforderungen, die mit Autismus einhergehen. Reizempfindlichkeit, Kommunikationsmuster, Wahrnehmungsfilter – all das ist real, konkret und nicht einfach eine Stilfrage der Persönlichkeit.
Maskierung und Sichtbarkeit
Besonders für spät diagnostizierte Menschen – und hier vor allem für Frauen und nicht-binäre Personen – ist das Funktionieren eine Maske, die über Jahre getragen wurde. Nicht, weil sie wollten. Sondern weil sie mussten, um durchzukommen. Die Symptome waren da. Nur wurden sie nicht erkannt – oder nicht ernst genommen. Man sah Leistung, Anpassung, vermeintliche Stärke. Aber nicht den Preis.
In seinem Beitrag zur Debatte um Sichtbarkeit beschreibt Tom Harrendorf die Sorge, dass Autismus zunehmend als Identitätslabel genutzt wird – auch von Menschen ohne klinisch relevante Einschränkungen. Die Befürchtung: Je mehr sich der Begriff öffnet, desto weniger bleibt von seiner Schutzfunktion. Doch wer legt fest, was „relevant“ ist? Wer entscheidet, wessen Erleben zählbar ist?
Zuhören statt Zuschreiben
Was vielen fehlt, ist nicht Erklärung – sondern Resonanz. Die Frage: „Wie erlebst du das?“ statt: „Was hast du?„. Die Einladung, sich mitzuteilen, ohne bewertet zu werden. Nicht die Zuschreibung, sondern das Zuhören ist es, was Nähe schafft.
Ich wünsche mir eine Sprache, die Raum lässt. Für die stille Frau mit dem Notizbuch. Für das Kind, das lieber beobachtet als spricht. Für den jungen Erwachsenen, der den Alltag nur in Etappen bewältigt. Es sind Geschichten, die keine Etiketten brauchen – sondern Anerkennung.
Vielleicht beginnt Inklusion nicht mit Diagnosen, sondern mit dem Mut, Nichtwissen zuzugeben. Vielleicht geht es nicht darum, wer „autistisch genug“ ist, sondern darum, wie wir Räume schaffen, in denen niemand sich rechtfertigen muss.
Denn oft ist es nicht das Wort, das stigmatisiert – sondern das Schweigen danach.
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