Die Figur des Christian Wolff – Rechengenie, Killer, Autist?
Als der Film The Accountant* 2016 in die Kinos kam, hinterließ er gemischte Reaktionen. Ben Affleck spielt Christian Wolff, einen forensischen Buchhalter mit autistischen Zügen, der zwischen Zahlen, Waffen und Erinnerungsfragmenten lebt. Die Suche nach „The Accountant“* in Kombination mit „Autismus“ ist kein Zufall – sie spiegelt die Sehnsucht nach Identifikation, nach Erklärung, nach fiktionalen Spiegeln. Doch was genau sehen wir, wenn wir Wolff betrachten? Und was sehen andere in uns?
Seine Fähigkeiten – mathematisches Denken, Präzision, Fokussierung – sind realistisch. Aber seine emotionale Kälte, seine Nähe zu Gewalt und sein fast übermenschlicher Instinkt lassen Fragen offen. Warum verknüpfen so viele Darstellungen von Autismus in der Popkultur außergewöhnliches Können mit sozialer Entfremdung oder gefährlicher Abweichung?
Wenn Sichtbarkeit schadet: Autistische Rollen ohne autistische Beteiligung
In Interviews wurde bekannt, dass der Film mit Organisationen wie „Autism Speaks“ zusammengearbeitet hat – einer Institution, die in der autistischen Community stark kritisiert wird. Viele autistische Aktivist:innen verweisen darauf, dass The Accountant stereotype Narrative befeuert: Der emotionslose Autist, das Geniekind, der Einzelgänger, der sich durch Gewalt seinen Platz erkämpfen muss.
Dominick Evans, selbst eingeschränkt und Aktivist:in, bezeichnete den Film als Paradebeispiel dafür, wie gefährlich medial vermittelte Bilder sein können, wenn Betroffene nicht selbst am Prozess beteiligt sind. Dass Christian Wolff als emotionsloser Soziopath gezeichnet wird, bedient nicht nur veraltete Vorstellungen, sondern untergräbt auch jede Form authentischer Darstellung.
Sehnsucht nach Repräsentation – aber zu welchem Preis?
Trotz aller Kritik gibt es Menschen, die den Film positiv sehen. Für einige ist Christian Wolff eine Ausnahmeerscheinung: ein autistischer Hauptcharakter mit Handlungsmacht. Kein Opfer, kein Nebencharakter, keine Karikatur, sondern jemand mit einer eigenen Geschichte. Doch hier beginnt das Dilemma: Muss man zur Hauptfigur werden, indem man zum Mythos wird? Muss Autismus immer extrem sein, um erzählt zu werden?
Der Film The Accountant 2*, erschienen 2025, setzt die Geschichte fort – wieder mit viel Action, wieder mit wenig Zwischentönen. Kritiker:innen bemängeln auch diesmal die eindimensionale Darstellung. Statt mit innerer Welt, gesellschaftlichen Kämpfen oder alltäglicher Ambivalenz, wird Christian erneut durch einen Plot getrieben, der mehr über Hollywoods Vorstellungen als über autistische Lebensrealitäten verrät.
Medien verändern Wahrnehmung – und damit auch uns
Die Popkultur hat großen Einfluss darauf, wie wir über Autismus sprechen. Figuren wie Sheldon Cooper (The Big Bang Theory), Sherlock Holmes oder sogar Amélie (Die fabelhafte Welt der Amélie) werden oft im Rückblick als „vermutlich autistisch“ gelesen. Doch selten sind diese Charaktere mit dem Wissen, der Sprache und der Perspektive autistischer Menschen entwickelt worden. Das führt zu verzerrten Bildern: Autismus als Exzentrik, als skurrile Begabung, als soziale Schrulle – aber kaum als soziale Realität.
Ben Affleck selbst – so sehr er mit einer zurückhaltenden Darstellung überrascht – bleibt in seiner realen Präsenz oft Symbol für eine andere, tragische Figur: der müde Mann im Schatten von JLo, erschöpft von einer Öffentlichkeit, die alles sieht und nichts versteht. Auch das ist Popkultur – und auch das spiegelt eine Wahrheit, die manchmal näher ist, als man denkt.
Was wir wirklich brauchen: andere Geschichten
Was fehlt, sind nicht mehr Filme über Autismus. Sondern Geschichten, die nicht über uns, sondern mit uns geschrieben wurden. Die nicht Helden erschaffen, sondern Menschen zeigen. Die nicht nach dem Spektakel suchen, sondern nach Nähe.
Ein guter Einstieg in diese Perspektive: Die Serie Everything’s Gonna Be Okay von Josh Thomas. Oder Bücher wie Autistisch? Kann ich fließend!* von Stephanie Meer-Walter, die persönliche Erzählung mit wissenschaftlicher Tiefe verbindet.
*enthält Affiliate
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