Sheldon Cooper und das Missverstaendnis von Autismus: Eine Reflexion zur Popkultur-Diagnose

Wenn Genialität zur Maske wird

Sheldon Cooper ist keine reale Person. Und doch begegnet man ihm immer wieder, wenn man als autistische Person versucht, sich in Gesprächen über Diagnose, Alltag oder Selbstverständnis verständlich zu machen. „Ah, wie bei Big Bang Theory?“ – ein Satz, der oft fällt, mal belustigt, mal gut gemeint. Aber selten hilfreich. Denn Sheldon Cooper ist weniger ein Spiegel autistischen Lebens, als vielmehr eine Projektionsfläche neurotypischer Faszination für das Schräge, das Hochbegabte, das sozial Unbeholfene.

In der Serie ist Sheldon brillant, pedantisch, emotional distanziert und auf gewisse Routinen fixiert. All das sind Eigenschaften, die man mit Autismus assoziieren kann – aber eben auch mit Karikatur, mit Drehbuchlogik, mit dem Wunsch, eine Figur liebenswert komisch zu inszenieren. Sheldon ist eine Figur, die unterhält. Aber sie erklärt nichts. Und sie repräsentiert niemanden, außer vielleicht sich selbst.

Wer darf als autistisch gelten?

Die Wirkung solcher medialen Bilder geht weit über Unterhaltung hinaus. Wie die ABC-Journalistin Nas Campanella schreibt, sind es genau diese Stereotype – der weiße, männliche, hochbegabte und sozial ungeschickte Wissenschaftler –, die vielen Menschen das Gefühl geben, „nicht autistisch genug“ zu sein. Vor allem Frauen, nichtbinäre Personen und People of Color erleben, dass ihre eigene neurodivergente Wahrnehmung durch dieses enge Bild ständig in Frage gestellt wird. Nicht, weil sie keine autistischen Merkmale hätten, sondern weil sie nicht in das mediale Raster passen.

Was Sheldon Cooper (und ähnliche Figuren wie Sherlock Holmes oder Amélie) zeigen, ist keine diagnostische Realität. Es ist ein selektiver Filter, durch den Autismus konsumierbar, unterhaltsam und narrativ steuerbar gemacht wird. Das Problem liegt nicht bei der Figur an sich – sondern darin, dass sie oft als Maßstab dient.

Das Double-Empathy-Problem in der Serie und im Alltag

Ein weiterer Aspekt, der selten thematisiert wird, ist das sogenannte Double-Empathy-Problem: die wechselseitige Missverständlichkeit zwischen neurotypischen und neurodivergenten Menschen. Serien wie „Big Bang Theory“ stellen Sheldon meist als sozialen Außenseiter dar – aber nie als jemanden, dessen Sichtweise ebenso berechtigt wie unverstanden sein könnte. Stattdessen wird sein Verhalten als skurrile Abweichung inszeniert, nicht als Ausdruck einer anderen Art, Welt zu empfinden und zu verarbeiten.

Wie die Psychologin Dr. Devon Price beschreibt, trägt Popkultur so oft zur Vereinfachung bei – obwohl echte Begegnung mit Autismus immer komplexer, vielstimmiger und oft auch widersprüchlicher ist. Gerade deshalb ist es wichtig, mediale Narrative zu hinterfragen: Wer wird gezeigt? Wer nicht? Und was sagt das über unsere gesellschaftliche Bereitschaft aus, Vielfalt wirklich zu sehen – auch wenn sie nicht in brillante Pointen passt?

Und jetzt?

Sheldon Cooper wird bleiben. Als popkulturelle Figur, als Referenzpunkt, vielleicht auch als Einstieg in ein Gespräch. Aber wir sollten ihn nicht mit realen Menschen verwechseln. Autismus ist kein Plot Device. Kein Running Gag. Und keine einheitliche Gestalt.

Vielleicht braucht es neue Figuren, neue Stimmen, neue Geschichten – und die Bereitschaft, zuzuhören, auch wenn es nicht unterhaltsam, sondern einfach nur echt ist.

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