Warum Gespräche Mich Auslaugen – Auch Die Schönen!
Es war ein Abend, wie ich ihn mir wünsche: vertraut, weich, mit leisem Humor und ohne Erwartungen. Ich saß mit zwei Freundinnen auf dem Balkon, Menschen, bei denen ich nicht erklären, nicht übersetzen, nicht filtern muss. Wir sprachen über Bücher, Beziehungen, Erinnerungen; der Tee dampfte in unseren Händen, die Luft war mild. Nichts an diesem Moment war laut oder fordernd. Und dennoch: Als ich später allein durch die Tür trat, war da nur noch Leere. Kein Frust, keine Enttäuschung – aber ein inneres Ausgelaugtsein, das sich nicht wegerklären ließ.
Auch Gutes kann ermüden
Dass auch Gutes müde macht, gehört zu jenen Wahrheiten, die sich schwer vermitteln lassen. Denn Erschöpfung wird oft mit Negativem assoziiert – mit Überforderung, Konflikt, Spannung. Doch gerade in den scheinbar mühelosen Begegnungen, in denen ich mich sicher fühle, spüre ich später oft besonders deutlich, wie viel Kraft es mich kostet, präsent zu sein.
Ich bin autistisch. Und auch wenn ich in vielen sozialen Situationen geübt wirke, erfordert fast jede Interaktion ein feines Austarieren. Mein Gehirn nimmt nicht nur Sprache wahr, sondern auch Tonlagen, Pausen, Blickverläufe, Untertöne – und das alles gleichzeitig. Ich höre, beobachte, sortiere, spiegle. Ich bemühe mich, da zu sein, ohne mich selbst zu verlieren. Und kaum jemand sieht, was das innerlich bedeutet.
Gespräch ist vorbei – aber mein Kopf noch drin
Ein Gespräch, das äußerlich zwei Stunden dauert, wirkt in mir oft noch lange nach. Es zieht Fäden in meinen Gedanken, bringt Szenen zurück ins Bewusstsein, lässt einzelne Formulierungen wieder auftauchen. Ich frage mich, ob mein Timing stimmte, ob ich etwas hätte anders sagen oder besser zurückhalten sollen. Während andere längst weitergezogen sind, hängt ein Teil von mir noch immer zwischen den Sätzen.
Emotionale Tiefe fordert Energie
Besonders tief geht diese Erschöpfung, wenn mir jemand wichtig ist. Denn dann bin ich wacher, verletzlicher, verbundener. Ich achte auf Zwischentöne, auf Stimmungsschwankungen, auf Nuancen. Ich möchte nichts übersehen, niemandem zu nahe kommen, niemanden verlieren. Und so laufe ich innerlich auf einem schmalen Grat zwischen Nähe und Überforderung.
Ich erinnere mich an ein Treffen, das von außen betrachtet ideal war: Wir lachten, waren nah, offen, miteinander. Und doch spürte ich inmitten dieses Miteinanders plötzlich, wie mein Blick sich zurückzog, meine Sinne sich einrollten, mein Körper stiller wurde. Nicht, weil etwas falsch war – sondern weil es genug gewesen war. Ich blieb, hörte weiter zu, lächelte. Aber innerlich hatte ich mich längst auf den Heimweg gemacht.
Erschöpfung ist nicht immer negativ
Diese Art der Erschöpfung ist nicht negativ im klassischen Sinn. Sie entspringt nicht einem Mangel, sondern einer Fülle – der Fülle an Eindrücken, Bedeutungen, emotionaler Dichte. Es ist das Zu-viel-Gewordene, nicht das Zuwenig. Und in dieser Fülle liegt oft auch etwas Schönes – aber eben auch etwas, das Zeit braucht, um sich wieder zu setzen.
Rückzug als Wertschätzung
Ich weiß, dass ich damit nicht allein bin. Viele neurodivergente Menschen kennen das Phänomen, dass selbst tiefe Nähe ermüden kann. Dass Rückzug nicht Ablehnung bedeutet, sondern ein Akt der Selbstwahrung. Dass man nach dem Verbindlichsten manchmal den größten Abstand braucht, um wieder bei sich anzukommen.
Vielleicht wäre es hilfreich, soziale Erschöpfung nicht länger als Widerspruch zur Beziehung zu verstehen – sondern als Teil davon. Für manche von uns bedeutet Nähe nicht nur Zugehörigkeit, sondern auch Anstrengung. Beides darf nebeneinander stehen.
Wenn du also jemanden kennst, der sich nach einem schönen Abend zurückzieht, der erst später antwortet oder für eine Weile still wird – nimm es nicht persönlich. Vielleicht ist gerade diese Stille ein Zeichen dafür, wie viel ihm oder ihr das Zusammensein bedeutet hat.
Und wenn du selbst so fühlst: Du bist nicht distanziert. Du bist aufmerksam. Du bist sensibel. Nicht weniger sozial – nur auf andere Weise erschöpft.
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