(Essay)
Gedanken über Tee, Tabs im Kopf und ein System, das endlich mitdenkt.
Ich liebe meinen Planer. Nicht weil ich besonders organisiert bin – sondern weil mein Kopf es nicht ist. Während draußen alles zu laut, zu schnell oder zu viel wird, liegt er einfach da. Aufgeschlagen, mit klaren Linien, kleinen Skizzen, Klebezetteln. Farbig markiert, aber nie überladen. Ich sehe auf die Seite, nehme einen Schluck Tee, klappe ihn zu – als wäre das gerade die beste Minute des Tages. Und manchmal ist sie das auch.
Denn wenn ich ehrlich bin, ist Planung für mich nie eine Funktion gewesen, sondern ein Gefühl. Kein Ziel, sondern ein Zustand. Der Moment, in dem ich einen Stift in die Hand nehme, das Papier unter den Fingern spüre, eine Zeile ziehe, ein Kästchen setze – das ist nicht nur Organisation. Das ist Erleichterung. Das ist ein kleines „Ich bin hier“-Signal an mein überfordertes Nervensystem.
An normalen Tagen hat mein Gehirn ungefähr 38 Tabs offen. Manche davon hängen, manche flackern, andere machen plötzlich Geräusche, obwohl ich sie gar nicht geöffnet habe. Manchmal spielt plötzlich ein Jingle in meinem Kopf, den ich Jahre nicht gehört habe. Dann wieder sehe ich eine To-do-Liste aus dem Jahr 2019 vor meinem inneren Auge, die nie abgearbeitet wurde. Mein Planer ist das Gegenteil davon. Kein Lärm, keine Ablenkung. Einfach ein Tab. Und zwar einer, der bleibt.
Ich habe eine bestimmte Stelle in meiner Wohnung – am Fenster, auf dem kleinen Tisch mit der groben Leinen-Tischdecke – dort schreibe ich am liebsten. Die Haptik der Tischdecke, das Licht am frühen Nachmittag, mein Lieblingsstift mit der feinen Mine: All das schafft eine Umgebung, die still ist. Nicht geräuschlos – aber innerlich still. Ich atme tiefer. Die Reize sind noch da, aber sie greifen nicht mehr um sich.
Früher war das anders.
Da war ich fast exzessiv in meinem Planungsverhalten – jeder Gedanke, jeder Schritt musste aufgeschrieben werden. Ich verlor mich oft darin, und manchmal wollte ich gar nicht mehr aufhören. Es war wie eine Art manisches Schreiben – als müsste ich alles festhalten, um nicht auseinanderzufallen. Aus Listen wurden Geschichten, aus Geschichten wieder Listen. Wenn ich mich heute daran erinnere, sehe ich nicht nur ein Notizbuch, sondern einen Überlebensmechanismus. Damals entdeckte ich auch meine Vorliebe für japanische Schreibwaren – und bis heute kann mich kaum etwas so erfreuen wie die Haptik einer guten Papierqualität. Griffigkeit, das Geräusch beim Umblättern – ich könnte stundenlang darüber sprechen. Apropos Papier: Zeitungspapier ist mein Favorit. Wenn es das eines Tages wirklich nicht mehr geben sollte, werde ich wahrscheinlich sehr, sehr traurig sein. Manchmal frage ich mich, ob ich anfangen sollte, Zeitungen zu horten – wie mein Opa. Nur aus anderen Gründen.
Mit der Zeit ist etwas Ruhe in mein System gekommen. Und mit den Therapien kam auch eine neue Art von Entscheidungsfindung. Nicht mehr: Was fehlt noch?
Sondern eher: Was braucht es, um auf den Punkt zu kommen?
Ich musste lernen, es auch mal gut sein zu lassen. Der Drang, alles zu erfassen, alles zu optimieren, hat langsam einem anderen Bedürfnis Platz gemacht: Klarheit statt Vollständigkeit. Ich nenne es innerliche Temperaturmessung. Nicht auf Hitze optimieren – sondern Raum schaffen, dass die Dinge sich abkühlen dürfen.
Ich habe nie aus Spaß geplant. Es war nie ein Lifestyle-Ding. Ich plane, weil mein Kopf sonst das Gefühl hat, etwas vergessen zu haben, bevor überhaupt etwas passiert ist. Mein Denken ist wie eine Stadt bei Nacht, überall Lichter, blinkende Hinweise, laute Ampeln. Der Planer macht sichtbar, was sonst wie Nebel durch mein Denken zieht – formlose To-dos, lose Enden, Gesprächsfetzen, Restgefühle. Ich schreibe es raus, damit es nicht drin bleibt. Und merke immer wieder: Das allein verändert schon etwas.
Es ist, als würde das Chaos höflich anklopfen, wenn es auf Papier darf. Ich schreibe, um meine Grenzen zu markieren. Nicht als Mauer, sondern als Umriss. Ich zeichne mich durch meine Notizen. Ich existiere, wenn ich strukturiere. Nicht weil Struktur das Ziel ist, sondern weil sie eine Haltung ist: eine leise, geduldige Antwort auf das innere Zuviel.
Der Markt ist voll mit Kalendern, die schreien. Dicke Seiten, fette Sprüche, glitzernde Ziele. Ich habe lange nach einem gesucht, der einfach still ist. Einer, der nicht aussehen will wie ein Business-Coach. Der mich nicht dazu auffordert, die beste Version meiner selbst zu werden – sondern einfach zu merken, wie es mir gerade geht.
Also habe ich irgendwann selbst einen entwickelt. Nichts Kompliziertes. Klar, ruhig, strukturiert. Ohne Druck. Aber mit Raum für das, was sonst oft keinen Platz bekommt: Routinen, Reizlevel, Energiezustand. Es gibt sogar ein Feld für „Heute war’s einfach viel“. Und manchmal bleibt das das einzige, was ich ankreuze. Und dann sitze ich da, sehe dieses eine Kreuz – und fühle mich gesehen. Von mir selbst.
Der Planer fragt nicht nach Produktivität, sondern nach Befinden. Er hilft, Dinge zu sortieren, ohne sie zu bewerten. Für mich ist er kein Kalender. Er ist ein Werkzeug. Eines, das nicht fordert, sondern begleitet. Eines, das leise bleibt – aber nicht egal ist.
Heute ist Mittwoch. Die Woche ist schon wieder voller als gedacht. Aber ich schlage die Seite auf, trage etwas ein, notiere zwei Dinge, die ich lieber nicht vergesse. Und plötzlich ist wieder Platz. Zum Atmen, zum Denken, zum Nichts-Tun. Ich streiche mir über das Papier, als würde ich mich selbst beruhigen. Vielleicht tue ich genau das.
Vielleicht ist Planen für mich nie „organisieren“ gewesen. Vielleicht war es immer: mich selbst aufschreiben, damit ich mich nicht verliere.
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